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Eine Reise in die Vergangenheit

 

Hanna Milinski, geb. Kähler - 1998

 

 

   Mein Vater - Ludwig Kähler, geb. 1888 - ist der einzige Sohn meines Großvaters - August Kähler - aus erster Ehe mit Maria geb. Graff, Tochter eines Schiffers aus Demmin.

   Meine Großmutter starb noch in der Kindheit meines Vaters, und mein Großvater heiratete im Jahre 1900 eine Minna Kienappel aus Wendischhagen in zweiter Ehe.

   Die ledig gebliebene Schwester Martha meines Großvaters nahm sich meines Vaters an und sorgte für ihn etliche Jahre. Dieser Umstand erklärt schon, daß mein Vater nach der Wiederverheiratung meines Großvaters in dem Sinne kein Elternhaus mehr besaß.

   Ich habe meinen Großvater nur zweimal in meinem Leben gesehen Er besuchte uns Anfang der dreißiger Jahre einmal in Hamburg, schon über 70 Jahre alt, aber noch sehr rüstig. Ja, und dann ist in meiner Erinnerung noch die Reise mit Eltern, Bruder und Schwester nach Neukalen 1928 zum Schützenfest. Ich war 6 Jahre alt, und es ist die einzige Bahnreise, die unsere Eltern gemeinsam mit uns Kindern unternommen haben oder besser, sich überhaupt leisten konnten. Vielleicht ist sie mir deshalb so unauslöschlich im Gedächtnis geblieben.

   Mein Großvater muß ein sehr rühriger Mann gewesen sein. Bilder von öffentlichen Veranstaltungen und Versammlungen zeigen ihn meistens in der ersten Reihe. Als Stadtschreiber im Rathaus tätig, hat er in seiner sauberen Handschrift über viele Jahre das Protokollbuch des Neukalener Schützenvereins geführt.

   Als Mecklenburg, das so nahe bei Hamburg beginnt, in der Nachkriegszeit für uns nur unter großen Schwierigkeiten erreichbar hinter dem eisernen Vorhang verschwand, versank auch mein Kindheitserlebnis in einer Schublade der Vergangenheit. Erst diese unvergeßliche Euphorie der Grenzöffnung 1989 machte mir plötzlich bewußt, daß es nun ohne Umstände möglich geworden ist, mir die Heimat meines Vaters anzusehen und mein Großelternhaus wiederzufinden. Mein Vater war 1973 gestorben, so daß ich nur auf meine eigenen Erinnerungen angewiesen blieb.

   Am 30. April 1990 packten mein Mann und ich eine kleine Reisetasche, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wo wir die folgende Nacht zubringen würden und machten uns auf den Weg nach Neukalen in die Noch-DDR. Ich hatte mir einige Familien - Urkunden mitgenommen, die mir evtl. weiterhelfen würden.

   Wir begannen mit einem Besuch bei Pastor Waack in der Hoffnung, aus Kirchenbüchern etwas über noch lebende Verwandte oder die alte Adresse meiner Großeltern zu erfahren. Pastor Waack konnte uns in dieser Hinsicht nicht helfen, begleitete uns jedoch zu einer Frau Kähler in der Lutherstraße. Es stellte sich schnell heraus, daß sie nicht zur Neukalener Kähler - Familie gehört, sondern aus Ostpreußen stammt. Als Frau Kähler aber unser Vorhaben erfuhr, bot sie uns spontan an, bei ihr zu übernachten. Dank dieser Gastlichkeit konnten wir nun in Ruhe weitersuchen.

   In meiner Erinnerung befand sich neben dem Großelternhaus eine Schlachterei. Als Großstadtkind habe ich mir bei der Anlieferung von Schweinen immer die Ohren zugehalten. Auch der Friedhof konnte nicht weit entfernt sein; denn dort bin ich öfter mit Nachbarskindern gewesen. Mein Mann und ich suchten als erstes Ziel also den Friedhof auf, der ja geblieben sein mußte. In der leisen Hoffnung, vielleicht noch das Großelterngrab zu finden, gingen wir systematisch die Grabreihen auf dem ältesten Teil auf und ab. Wir wollten schon aufgeben, da stand ich plötzlich vor dem Grabstein meines Großvaters und seiner zweiten Frau. Wir hätten nicht viel später kommen dürfen; im Sommer 1990 wurde die Grabstelle aufgehoben.

   Soviel wir aber auch in der Straße bei Passanten nachfragten, niemand wußte, ob es dort jemals einen Schlachter gegeben hätte. Bis man uns riet, doch einmal beim alten Steinmetz nachzufragen, und dort wurden wir fündig! Er war als Kind Spielkamerad des jüngsten Stiefbruders meines Vaters gewesen in meinem Großelternhaus Darguner Straße 3, und er bestätigte mir auch den Schlachter als Nachbarn.

 

Haus Darguner Straße 3, etwa 1928

 

Haus Darguner Straße 3, etwa 1928;
davorstehend: August und Minna Kähler
mit ihrem jüngsten Sohn August - Wilhelm

 

 

   Ich würde dieses Haus mit seinem heutigen Aussehen niemals als das meiner Großeltern wiedererkannt haben. Auch die Bäume an der Straße stehen nicht mehr. Als ich jedoch in Richtung Dargun blickte, bemerkte ich, daß der Fahrweg auch heute noch leicht ansteigt. Von dort herunter kam damals 1928 ein vollgeladener Erntewagen, gezogen von zwei Pferden. Es war ein sonniger Tag, und wir Kinder spielten auf dem Fußweg. Als meine dreijährige Schwester die trappenden Pferde sah, lief sie jubelnd über den Fahrdamm auf das Gespann zu. Der geschockte Kutscher mühte sich mit aller Kraft, den schweren Wagen zu bremsen. Die schnaubenden Pferde gingen auseinander, soweit es ihnen im Geschirr möglich war. Auf der Straße sammelten sich plötzlich schreiende Menschen, und man zog meine Schwester unversehrt aus der Gefahrenzone. Ihr Schutzengel hatte wahrscheinlich auf der Deichsel gesessen!

   Auch mein Großvater war von dem Lärm aufgeschreckt aus dem Hausgestürzt, und die erste, die ihm über den Weg kam, war ich. Mit den Worten ,,Du schast oppassen" erhielt ich eine Ohrfeige. Damit hatte er den Gedanken an die doch den Erwachsenen obliegende Aufsichtspflicht sowie seine Aufregung erst einmal abreagiert. Diese mir damals völlig unverständliche und als ungerecht empfundene Handlungsweise blieb mir für immer verbunden mit dem Begriff ,,Großvater in Neukalen". Sie ist mir später zur Lehre geworden für die eigene Reaktion in ähnlichen Situationen.

 

Schützenkönig August Kähler 1932

 

Schützenkönig August Kähler 1932

 

 

   Frau Kähler verhalf uns zur Bekanntschaft mit Familie Christel und Horst Kunze in Schlakendorf. Auf ihrem großen Grundstück haben wir in unserem rollenden Ferienhaus viele schöne Urlaubstage verbracht. Wir sind kreuz und quer durch Mecklenburg - Vorpommern auf Entdeckungsreisen gegangen, immer wieder aufs Neue überrascht, wie schön dieses Land ist. So haben ich und auch meine Familie die Heimat meiner Vorfahren kennen und lieben gelernt.


Zum Stammbaum von Frau Hanna Milinski

 

 


1. Christian Johann Jochen Hinrich Kähler, Schäfer in Godern, verh. mit Elisabeth, geb. Metelmann
   Kinder:

 

   1.1. Christian Johann Jochen Kähler, geb. 24.3.1829 in Godern, Telegrafenbote, verh. mit Sophia Maria Lisette Kiessling, geb. 14.6.1826 in Schwerin, gest. 1882 (Vater: Georg Friedrich Jürgen Kiessling, Arbeitsmann in Schwerin; Mutter: Georgine Sophia Elenore, geb. Borchert)

      Kinder:

      1.1.1. Ludwig Kähler

 

      1.1.2. Marta Kähler

      1.1.3. Georg Carl Gustav Kähler, geb. 6.5.1857 in Waren, gest. 15.5.1900 in Neukalen, Gastwirt, Heirat am 8.12.1882 in Neukalen: Albine Charlotte Maria Luise Trense, geb. 1.1.1849 in Neukalen, gest. 7.7.1911 in Neukalen (Vater: Jacob Friedrich Trense, Tischlermeister; Mutter: Karolina Wilhelmina, geb. Münchmeier)
         Kinder: 9 tot geborene Kinder

      1.1.4. August Max Leopold Kähler, geb. 3.1.1862 in Waren, gest. 23.3.1946 in Neukalen, Friseur, 1. Heirat am 7.6.1887 in Demmin: Maria Wilhelmine Auguste Graff, geb. 28.3.1868 in Demmin, gest. 8.1.1898 in Neukalen (Vater: Hermann Graff, Schiffer in Demmin; Mutter: Wilhelmine, geb. Leidecker); 2. Heirat am 23.5.1900 in Hohen Mistorf: Minna Auguste Friederike  Kienappel, geb. 9.6.1876 in Wendischhagen, gest. 13.11.1945 in Neukalen (Vater: Carl Kienappel, Erbpächter in Wendischhagen)
         Kinder:

        1.1.4.1. Ludwig Christian Willy Karl Kähler, geb. 6.3.1888 in Neukalen

            Kinder:

 

            1.1.4.1.1. Hanna Kähler, geb. 3.2.1922, verh. Milinski

 

         1.1.4.2. Gertrud Regina Editha Carla Elise Kähler, geb. 8.4.1891, gest. 19.10.1892

         1.1.4.3. Carl Friedrich Max August Kähler, geb. 3.4.1901

         1.1.4.4. Johannes Hermann Willy Kähler, geb. 5.11.1903

 

         1.1.4.5. August-Wilhelm Heinz Otto Kähler, geb. 11.12.1918