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Neukalen und Schweden

 

Lars Wikander

Der schwedische Schriftsteller Lars Wikander wurde 1936 in Boras, einer Textilstadt, 70 km von Göteborg entfernt, geboren. Früher war er Personalberater für einen der 23 Provinziallandtage in Schweden. Als solcher hatte er regelmäßig als Krankenpfleger praktiziert, um die Arbeitssituation des Personals kennenzulernen; von der Geburt bis zur Obduktion und alles, was es dazwischen gibt. Seine Erfahrungen hat Lars Wikander in Romane und Dokumentationen umgesetzt. Bisher sind elf Bücher von ihm erschienen. Seit 1985 ist er freiberuflich tätig und hält Vorlesungen in Schweden und Norwegen über eine humanere Langzeit- und Altenpflege.

 

 
Lars Wikander
 
Lars Wikander

 

 

   Wie kommt ein schwedischer Schriftsteller in Kontakt mit Neukalen? Hier ist eine ganz besondere Geschichte!
   Vor einigen Jahren, als ich mein gerade erschienenes Buch in einer Stadt an der schwedischen Westküste signierte, es handelte sich um eine biografische Dokumentargeschichte, kam eine Frau zu mir: "Dein Buch habe ich schon gelesen. Ich staune über Deine Fähigkeit, um Angaben im Internet zu finden. Würdest Du mir darüber einen Tipp geben? Weißt Du, ich habe eine eigene Geschichte zu erzählen."
 
Ingrid, Nadjas Enkelin, ist eine schwedische Schauspielerin
 
Ingrid, Nadjas Enkelin, ist eine schwedische Schauspielerin

 

 

   Dann hörte ich Ingrid´s Geschichte zu: "Mein Urgroßvater war ein Deutscher und hieß Otto Timm. Meine Urgroßmutter war eine Russin, aber niemand von uns weiß ihren Namen ..."
 
Ostsibirien

   Die Familie wohnte in Blagoveshchensk in Ostsibirien nahe an der chinesischen Grenze. Ingrid erzählte mir in groben Zügen von den hinterlassenen Notizen ihrer Großmutter Nadja und was geschehen ist. Wann Otto Timm nach Blagoveshchensk gekommen ist, wußte niemand genau. Die Familie wohnte in einem großen Haus in der Stadtmitte mit Wachhunden, Pferden und mehreren Dienern. Nächster Nachbar war der Gouverneur. Timm war dort ein sehr erfolgreicher Kaufmann. Er hatte vier Walzenmühlen und mehrere Läden. Er verkaufte amerikanische Landwirtschaftsmaschinen, Straßenmaterialien, Drahtseile, Jagdwaffen, Bedarfsartikel ... Er hatte vier Kinder: drei Mädchen und einen Jungen. Die beiden ältesten sind verstorben, Michael und die jüngere Nadja überlebten.
 
Otto Timm
 
Otto Timm

 

 

Jekaterina Timm, geb. Gnilägina

 

Jekaterina Timm, geb. Gnilägina

 

 

Das Haus der Familie Otto Timm an der Lenin Straße in Blagoveshchensk, heute baufällig

 

Das Haus der Familie Otto Timm an der Lenin Straße in Blagoveshchensk, heute baufällig

 

 

Um 1892 gab es in Blagoveshchensk 136 Kamele als Transporttiere nach und von China

 

Um 1892 gab es in Blagoveshchensk 136 Kamele als Transporttiere nach und von China

 

 

 

Poesiealbum

   Für den Schulbesuch der Oberstufe wurden Michael und Nadja für fünf Jahre nach Lübeck gesandt. In dieser Zeit ist auch Otto´s Frau, Nadja´s Mutter, gestorben; wann genau, ist in den Notizen von Nadja unklar. Während der Zeit in Lübeck hatte Nadja ein Poesiealbum, in welches Freunde und Verwandte Verse und kluge Wörter niedergeschrieben haben. In diesem Album kann man lesen, dass sowohl Michael als auch Nadja zu Ostern 1914 in Lübeck konfirmiert wurden. Im Sommer 1914 fährt Nadja nach Rußland zurück, Michael dagegen bleibt in Deutschland. Nadja kommt am Abend des 31. Juli in Blagoveshchensk an. Am nächsten Tag erklärt Deutschland Rußland den Krieg.
Hetzkampagne
   Die Deutschen in Blagoveshchensk sind einer Hetzkampagne ausgesetzt. Etwas später werden sie zuerst verhaftet und danach, im Sommer 1915, in das nördliche Sibirien nach Jakutsk gesandt. In dieser Zeit ist Otto krank. Er leidet an einer manischen Depression und wird in einem Krankenhaus in Jakutsk gepflegt.
 
Räuber, Kälte und Schlitten

   Niemand weiß wie, aber es ist Nadja und Otto gelungen, eine Ausreisegenehmigung von St. Petersburg nach Schweden zu bekommen. Als es allgemein bekannt wird, dass die Timm´s viel Geld haben, entsteht ein Gerücht, dass sie auf der Reise überfallen werden sollen. Alle erwarten, dass die Abfahrt nach Weihnachten und Neujahr, also im Januar 1917 stattfinden wird. Aber Nadja, jetzt 19 Jahre alt, hat andere Pläne. Sie werden geheim vor dem Weihnachtsfest abfahren. Es gelingt Nadja, eine Krankenschwester mitzunehmen. Der Polizeidirektor empfiehlt einen zuverlässigen Mann als Reisegesellschaft und zum Schutz. Zwei Schlitten mit Kutscher sind gemietet. Sorgfältig geplante Nahrungsmittel werden eingekauft. Man überredet Nadja auch, einen Revolver zu kaufen.
   Nadja´s Notizen erzählen, dass sie Jakutsk am 16. Dezember 1916 verlassen. Es herrscht eine Kälte von minus 56 Grad. Vor der kleinen Gesellschaft liegen 3200 km Fahrt nach Irkutsk; 30 Tage ohne gekochtes Essen, durch Dörfer mit Lynchdrohungen, Umfahrungen, Diebstähle und dem kranken Otto.
 
Freiheit in Schweden

   Nadja hat nichts von ihrer Reise zwischen Irkutsk und Schweden geschrieben. Ingrid weiß nur, dass Otto in Schweden gestorben ist und in Stockholm begraben wurde. Nadja selbst traf in Schweden einen Mann in Göteborg, heiratete ihn und bekam drei Kinder. Später hat Nadja ihre Erlebnisse in Blagoveshchensk, Lübeck und die Fahrt nach und von Jakutsk auf hunderten von Seiten niedergeschrieben. Ein Vetter Ingrid´s hat fast alles in´s Reine geschrieben. Ich und meine Frau haben das Übrige gemacht und auch sortiert.
Nadja Timms Foto, als sie 1918 die Aufenthaltsgenehmigung in Göteborg beantragte. Sie war damals 21 Jahre alt
Nadja Timms Foto, als sie 1918 die Aufenthaltsgenehmigung in Göteborg beantragte. Sie war damals 21 Jahre alt.

 

 

Nadja in Schweden an ihrem 75. Geburtstag, kurz bevor sie gestorben ist

 

Nadja in Schweden an ihrem 75. Geburtstag, kurz bevor sie gestorben ist

 

 

Nadjas Grabstein in Boras. Was für eine Geschichte, die sich hier verbirgt!

 

Nadjas Grabstein in Boras. Was für eine Geschichte, die sich hier verbirgt!

 

 

   Aber was ist mit Neukalen? Ruhig! Es kommt gleich .
   Wenn ich Ingrid helfen wollte, hatte ich drei "Fronten": Schweden, Deutschland und Rußland.
 
Schweden

   Für Schweden fiel mir die Deutsche Kirche in Stockholm ein. Und Bingo! Sie hatten in ihrem Archiv ein "Toten- und Begräbnisbuch der Deutschen St: Gertruds - Gemeinde für das Jahr 1917".
   In einer Art kann man sagen, dass die Angaben hier Otto Timm wieder etwas lebendig machten: Er starb auf der Reise zwischen Haparanda und Stockholm am 4. März 1917 an einer akuten Lungenentzündung, und Otto Carl Louis Timm, Kaufmann, ist den 21 Januar 1857 in Neukalen geboren!
 
Angaben im Stockholmer Begräbnisbuch über den Tod von Otto Carl Louis Timm
Angaben im Stockholmer Begräbnisbuch über den Tod von Otto Carl Louis Timm

 

 

Deutschland

   Für Deutschland gab mir Nadja´s Poesiealbum einen Einfallwinkel. Ihr Konfirmationspastor hatte dort etwas geschrieben und mit seinem Namen unterzeichnet. Mit Hilfe des Namens führte mich die Suche im Internet zur St: Lorenz Kirche in Lübeck. Von dem Archiv des Kirchenkreises Lübeck bekam ich unerwartete Angaben: Nadja und Michael sind am 4. April 1914 in der St. Lorenz Kirche in Lübeck konfirmiert worden. Die Namen der Eltern, Otto Timm und seine russische Frau, sind eingetragen. Zum ersten Mal haben wir ihren Namen gesehen: Jekaterina Gawrilowna Timm, geb. Gnilägina.
   Das Pfarramt in Neukalen habe ich im Internet gefunden und befragt. Sie hatten einige Angaben, wiesen mich aber auf Herrn Wolfgang Schimmel hin. Und das war noch ein Bingo! Herr Schimmel konnte die ganze Familie Timm erfassen.
   Otto´s Eltern waren Christian Timm, Stadtsekretär in Neukalen, und Dorothea (Doris) Timm, geb. Fürneisen. Otto war das dritte Kind von acht. Die zwei älteren Schwestern kannte ich schon aus Nadja´s Poesiealbum als Tante Elise und Tante Lucie. Zwei, Magda und Ulla, wohnten später in Berlin. Noch drei Kinder sind geboren, aber als Säuglinge gestorben. Herr Schimmel wußte auch, wo die Familie gewohnt hat; in der Chausseestraße Nr. 319 (heute Straße der Freundschaft 4). Das Haus ist von Christian Timm erbaut worden. Die Tante Lucie wohnte dort später noch allein und ist am 5.7.1929 unverheiratet gestorben.
   Eine unbeantwortete Frage ist, wann und wohin Otto Timm Neukalen verlassen hat. Wann? Zum Teil hat Herr Schimmel eine Antwort gefunden. In der Wählerliste von 1878 steht Otto Timm nicht mehr. Wohin? Für weitere Angaben muß ich an die dritte "Front" fahren.
 
Rußland

   Durch Lions Club und Rotary suchte ich einen englischsprachigen Kontakt in Blagoveshchensk. Und wieder Bingo! Andrej, damals stellvertretender Minister für Ökonomie und Auslandsangelegenheiten in der Amurregion, jetzt Privatunternehmer, versprach mir Hilfe.
   Andrej besuchte Lokalarchive in Blagoveshchensk und Zentralarchive in Chabarovsk und Wladiwostok. Und er hat schon viel gefunden. Hier etwas:
   Die Todesanzeige Jekaterinas. Sie ist am 4. Oktober 1908 gestorben. Das wußten wir vorher nicht.
 
Die Todesanzeige in einer russischen Zeitung sagt aus, daß Jekaterina am 4. Oktober 1908 gestorben ist.
 
Die Todesanzeige in einer russischen Zeitung sagt aus, daß Jekaterina am 4. Oktober 1908 gestorben ist.

 

 

   Aus einer russischen Liste über verhaftete Deutsche in Blagoveshchensk von 1915 kann man ersehen, dass das Ankunftsjahr Otto Timm´s nach Rußland und Blagoveshchensk dasselbe ist. Er ist also 1880 direkt vom Ausland (Deutschland?) nach Blagoveshchensk gekommen. Wo die Familie wohnte, hat Andrej auch gefunden. Das Haus befindet sich in der Stadtmitte an der Lenin Straße, damals Grosse Straße genannt. Drei von Otto Timm´s vier Walzenmühlen sind auf der Karte identifiziert. Das Museum in Blagoveshchensk hat zwei Ausstellungen mit Materialien von mir durchgeführt: eine 2009 über „Kaufleutefamilien 1890 - 1920“ und eine 2010 über bekannte Unternehmer in Blagoveshchensk. Von dem Deutsch - Russischen Verein in der Stadt war ich auch eingeladen, um eine Vorlesung in der Staatsuniversität über die Familie Timm zu geben. Doch konnte man leider nicht genug Geld dafür bekommen. Aber es war eine Ehre, eingeladen zu sein.
 
Rätsel bleiben

   Jede deutsche Familie und alle Personen hat Nadja nur mit einem großen Buchstaben erwähnt. Warum? Hatte sie vor den Russen Angst und wollte ihre Bekannten schützen? Es war ja die Zeit der revolutionären Umwälzung.
   Nadja hat in ihren Notizen niemals den Namen ihrer russischen Mutter genannt, kein Wort über Besuche oder Kontakte mit den Eltern Jekaterinas. Warum? 
   Nach Nadja´s Notizen sagte eine der Tanten in Lübeck über Jekaterina: "Sie ist von einem alten russischen Geschlecht". Adel? Hohe Offiziersfamilie? Verbindung mit dem Zar? Die Zeit in Rußland war für solche Menschen sehr gefährlich.
 
70 verschiedene Varianten

   Jekaterina ist eine geborene Gnilägina. Der Name ist in dem Kirchenarchiv Lübeck mit deutschen Buchstaben geschrieben. In Rußland verwendet man ganz andere kyrillische Buchstaben. Ich habe versucht, ihren Namen kyrillisch zu schreiben. Im Internet habe ich den Namen mit über 70 verschiedenen Alternativen gesucht. Nicht EINEN Treffer! (Heutzutage kann ich gut russische Texte schreiben und lesen, auch wenn ich es nicht verstehen kann.)
   Ich warte eifrig auf einen Fund von Andrej in Blagoveshchensk, wo er in einem Archiv ihren Namen in kyrillischer Schrift findet. Danach kann ich vielleicht Verwandte von Jekaterina suchen und das Rätsel lösen.
   Ich weiß noch nicht, welchen Weg Otto Timm zwischen Neukalen und Blagoveshchensk nahm. Ist er direkt nach dort gekommen oder vielleicht erst über Estland, wo sein Schwager Techniker in Pölula (damals Poll) an einer Ziegelei war? Bedeutet ein Fund in dem Personenstandsregister etwas? Otto´s älteste Tochter Sofia hat 1909 in Blagoveshchensk den Kaufmann Theodor Remnev geheiratet, der aus Tallin in Lettland stammte. Ich suche im Baltikum weiter.
  
2000 Stunden

   Ich habe schon gut 2000 Stunden im Internet gesucht und alle möglichen Spuren verfolgt. Es werden wohl noch einige hundert Stunden mehr werden. Inzwischen habe ich sehr viel Neues gelernt: Geographie, Kultur, Sprachen, Geschichte, Kniffe, wie man im Internet sucht, Hilfsmittel für Übersetzungen bekommt und - nicht zuletzt - neue Bekanntschaften zu schließen.
  
Unter dem Stein

   Obendrein berührt es mich, dass diese Nadja in meiner Heimatstadt Boras begraben ist. Wenn ich zu diesen Platz komme, steht die ganze unwahrscheinliche Geschichte wieder auf; hundert Jahre her, 7000 km entfernt, aber trotzdem so lebendig. Es gibt noch einige Fragezeichen, aber viele Fragezeichen sind doch schon beseitigt.
   Ich höre wieder Ingrid´s Worte: "Weißt Du, ich habe eine eigene Geschichte zu erzählen. Mein Urgroßvater war ein Deutscher und hieß Otto Timm. Meine Urgroßmutter war eine Russin, aber niemand von uns weiß ihren Namen..."
   Ingrid ist eine schwedische Schauspielerin. Sie träumt davon, einen Dokumentarfilm über die Familie Timm zu machen; vielleicht auch einen Spielfilm …
   Ich bin unerhört dankbar, dass ich, wie es oft ist, ganz zufällig an einer solchen faszinierenden Geschichte beteiligt bin. Es hat mein Leben unbeschreiblich bereichert.
   Und jetzt haben Sie Klarheit, wie es kommt, dass ein schwedischer Schriftsteller in Kontakt mit Neukalen kam. Ich bin mit einem Sohn der Stadt zusammengetroffen.
 
In diesem Haus ist Otto Timm aufgewachsen (Neukalen, Straße der Freundschaft 4)
 
In diesem Haus ist Otto Timm aufgewachsen
(Neukalen, Straße der Freundschaft 4)