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Herbstmarkt

 

Erinnerungen an den ersten Herbstmarkt nach dem Ende des zweiten Weltkrieges.

 

Wolfgang Voth

 

Die folgenden Begebenheiten ereigneten sich vor 70 Jahren in Neukalen. Die im Text mit Namen erwähnten Personen wohnten damals in Neukalen und leben zum Teil heute noch. Die damaligen Ereignisse hatten mich als Kind stark beeindruckt und verankerten sich fest in meinem Gedächtnis. Ältere Neukalener werden sich beim Lesen der Schilderungen auch daran erinnern.

Nachdem auch die letzten sowjetischen Soldaten aus Neukalen abgezogen waren und das zivile Leben sich einigermaßen stabilisiert hatte, gab es gelegentlich kleine Fahrgeschäfte die Neukalen besuchten. Meistens bauten sie auf dem Schulhof auf, der war in den ersten Nachkriegsjahren noch ohne Zaun. Es waren aber nur ein oder zwei kleine Karussell, oft nur für Kinder. Das Spektakel war also nicht allzu groß.

Aber im Herbst 1950 ging richtig was ab. Neukalen verwandelte sich für mich und alle anderen Kinder in eine neue Welt des Vergnügens, in ein noch nie erlebtes Spektakel.

Zwischen Wilhelm-Pieck-Straße und Lutherstraße war die westliche Seite des Marktes und unter den Bäumen an der Nordseite der Kirche alles mit Fahrgeschäften und Buden belegt. Vor dem Pastorenhaus stand das Kettenkarussell und die Berg- und Talbahn. Die Schiffsschaukel mit 5 Schiffen war vor dem Geschäft des Kaufmann Mamerow aufgestellt, das mittlere der Schiffe war zum Überschlag tauglich. Der damals fünfzehnjährige Manfred (Pongo) Jaskulski schaffte, zum Erstaunen aller, drei Überschläge nacheinander. Der Aufsichtshabende bremste dann ab, weil er wohl fürchtete die Schaukel flöge weg.

Vor der Schaukel war ein Kinderkarussell in einer einfachen Ausführung ohne besondere Ausstattung aufgestellt und gleich daneben der "Hau den Lucas". Die schon etwas älteren männlichen Jugendlichen und junge erwachsene Männer probierten hier ihre Kräfte aus. Ein Schmiedegeselle soll so kräftig zugeschlagen haben, daß der "Lucas" nicht nur klingelte, sondern gleich ganz weggeflogen ist. Musik gab es von der Schellack - Schallplatte, die von elektrischen Lautsprechern verstärkt wurde. Die gewonnene Lautstärke hielt sich aber in Grenzen.

Für noch mehr Spaß und Vergnügen war der Platz an der Nordseite der Kirche unter den damals noch stattlichen Linden mit Buden der verschiedensten Art belegt. Da waren Glücksrad, Ballwurf, Taubenstechen, Würfelspiel und als größte Attraktion eine Schaubude. Losbuden gab es noch nicht. Was sollte auch verlost werden, es wurde ja noch nicht viel hergestellt. Schießbuden waren verpönt. Mit dem Gewehr zu schießen so kurz nach dem Krieg, verband man mit wenig Vergnügen. Das kam dann erst später.

Ja, was war mit diesen Angeboten dann anzufangen: am Glücksrad dreimal drehen kostete 10 Pfennige und als Preis gab es eine Papierblume, und wer Pech hatte bekam nichts. Ballwerfen ging ebenfalls, gegen einen kleinen Einsatz sechsmal werfen auf leere Blechdosen-Pyramiden. Wer die Dosen alle abräumte, bekam einen ähnlichen Preis wie am Glücksrad. In der Schaubude gab es, wie der Name sagt, Unglaubliches zu schauen. Da waren Zerrspiegel, in denen komische Figuren und Gestalten erzeugt wurden, zum Schieflachen. Ein Mäusezirkus und ein Kalb mit fünf Beinen waren lustig anzusehen. Ein Affe mit Hut drehte den Leierkasten. Es gab eine Wahrsagerin, einen Jongleur und Messerwerfer mit beeindruckendem Geschick.

Als Höhepunkt der Attraktionen war ein Boxring mit einem Boxer – er nannte sich "Meister aller Klassen" - aufgestellt. Wer Mut hatte, konnte den "Meister" herausfordern und im Fall des Sieges ein Preisgeld von 20,00 Mark gewinnen. Eine stattliche Summe zu damaliger Zeit, wo die Stundenlöhne sich noch im Pfennigbereich bewegten.

Natürlich versuchten sich einheimische und dörfliche Jungmänner, das Preisgeld zu verdienen, und ich und andere in meinem Alter durften uns alles ansehen. Wir als Kinder fühlten uns groß(artig), da wir ohne Begleitung eines Erwachsenen diese Spektakel ansehen durften. Das Eintrittsgeld mußte uns aber jemand gegeben haben, wir selbst hatten ja noch keinen Verdienst, oder irgend jemand hatte Freikarten ergattert.

Vor den Boxkämpfen trat der Jongleur und Messerwerfer auf. Das war aufregend spannend, wie die Messer rund um seine Assistentin in die Bretterwand sausten und steckenblieben. Besonders Mutige, vor allem junge Frauen, wurden aufgefordert, es der Assistentin gleichzutun. So richtige Begeisterung kam bei dem weiblichen Publikum aber nicht auf. Nur eine, die damals 16jährige Maria Gosebeck, faßte sich ein Herz und stellte sich unter dem Beifall der Zuschauer mutig vor die Wand und dann flogen die Messer. Ob es für die couragierte Tat einen Preis gab, kann ich nicht sagen, auf jeden Fall großen Applaus.

Danach ging es mit den Boxkämpfen los. Hier meldeten sich mehrere junge Männer und wollten ihre Kräfte mit dem "Meister" messen. Die Kämpfer sollten in drei Runden zu je zwei Minuten versuchen, den Kampf durch k.o. zu gewinnen. Der Rummelboxer, wie die Artisten genannt wurden, trat in Kampfmontur mit Box-Handschuhen, Hose, Hemd und Schuhen an. Die Herausfordernden legten ihre Jacke ab, zogen den Gürtel etwas strammer und bekamen Boxhandschuhe. Unter den lautstarken Anfeuerungen der Zuschauer startete der Boxkampf. Der trainierte Boxer konnte sich der Angriffe erwehren und bekam kaum einen Schlag zu spüren. Die dritte Runde wurde meistens nicht mehr eingeläutet, da dem Herausforderer schon die Puste ausgegangen war.

Die Niederlagen nagten schwer an den Herausforderern. Sie wollten sich damit nicht abfinden und entwickelten einen Plan. Da war Helmut Weinke, 35 Jahre alt, Tischlergeselle beim Meister Erich Schacht. Helmut Weinke hatte in seiner früheren Heimat im Sportverein geboxt. Den bekniete man, die Ehre aller bisherigen Verlierer zu retten. So große Lust hatte er anfangs nicht, war ja nicht mehr der Jüngste und die Boxpraxis schon lange her. Irgendwie kam dann aber doch eine richtige Boxausrüstung zusammen, und er willigte in das Abenteuer ein. Der Veranstalter zeigte sich einverstanden, schließlich versprach das Spektakel eine volle Bude ohne daß Freikarten ausgegeben werden mußten. Am Samstagabend sollte es losgehen. Am Markt hatte Fritz Schoknecht seine Sattlerwerkstatt, er zählte auch zu den eifrigen Initiatoren dieses Racheaktes, und hier wurde Helmut Weinke ausgerüstet mit allem was nötig war: Hand- und Fußgelenke mit elastischen Binden bewickelt, Boxerhosen und Hemd angezogen und die Boxhandschuhe ordentlich gebunden. Das konnten wir mit großen Augen staunend alles miterleben. Angezogen mit Bademantel und großem umgelegten Handtuch ging es dann in die Boxbude. Für uns Kinder war an diesem Abend kein Platz zu bekommen, aber durch die dünnen Zeltwände bekamen wir die Stimmung natürlich mit. Gleich mit dem ersten Gong hallten die Anfeuerungsrufe über den ganzen Rummelplatz. Von Zeit zu Zeit waren die klatschenden Geräusche der Körpertreffer zu hören. Der Gong beendete die erste Runde und es wurde etwas stiller. Nach einer Minute begann die zweite Runde und die Anfeuerungsrufe und Pfiffe wurden lauter und endeten mit dem Gong. Nun kam die letzte Runde. Gleich wurde es wieder laut und lauter und dann plötzlich ganz still. Der Ringrichter brach den Kampf ab. Helmut Weinke hatte den Sieg. Der Jubel war wohl in ganz Neukalen zu hören. Die 20,00 Mark Kampfbörse hatte er sich natürlich verdient und die Ehre aller Herausforderer war auch wieder hergestellt. Ob dann anschließend das Ereignis gebührend gefeiert wurde, kann ich nicht sagen. Es war ja schon spät, und ich mußte, um keinen Ärger zu bekommen, mich zu Hause sehen lassen. Es wurde noch lange Zeit über die "historischen Boxkämpfe" in Neukalen und Umgebung erzählt.

So ein Spektakel hat es bei späteren Herbstmärkten nie wieder gegeben, bis sie dann irgendwann bedauerlicherweise ganz verschwanden. In meiner Erinnerung sind sie jedenfalls geblieben.