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Mein kleines Meer vor der Haustür

 

Dr. Helge Nagel

 

Am Kummerower See

 

   Ja, ich kann mich noch gut erinnern. Während wir Anfang des Jahres 1990 von Stavenhagen nach Neukalen umzogen, kam auch der Moment, als ich zum ersten Mal in unserem neuen Wohnzimmer stand. Das Zimmer, so ausgeräumt wie es war, konnte wahrlich kein Glücksgefühl aufkommen lassen - wohl aber der Blick aus dem Balkonfenster.
   Voller Begeisterung stellte ich einen in der Ecke stehenden Stuhl in die Mitte des Raumes und prüfte den Blickwinkel aus der Sitzposition. Das konnte doch nicht wahr sein, in Zukunft sollte ich sogar vom Sessel aus einen faszinierenden Ausblick auf "meinen" geliebten See haben.
   Seit dieser Begebenheit sind knapp 27 Jahre vergangen, die Begeisterung aber, ist bis zum heutigen Tag geblieben.
   Bevor ich endgültig zur Sache komme, noch eine kurze Richtigstellung. Dieser Beitrag ist 2008 entstanden. Der Hafen Salem wartet zwar immer noch auf eine zweite Mole, aber eine Betonnung hat er in der Zwischenzeit bekommen. Besonders positiv ist der Hafen Kummerow zu bewerten. Hier entstand zur Freude aller Dauerlieger 2015 endlich die zweite Mole. In Gravelotte mussten die schwankenden Betonwellenbrecher einer Molenverlängerung weichen, wodurch jetzt die Ansteuerung bei West- bis Nordwestwind gefahrlos möglich ist.
   Und nun geht es hinaus auf mein kleines Meer vor der Haustür. In meinen Notizblock trage ich ein: Der Kummerower See, dahinter das heutige Datum, der 27. August 2008 und die Zeit, es ist 7.48 Uhr.
   Wie sieht es denn mit der Temperatur aus? Ich gehe ins Wohnzimmer und werfe einen Blick auf das Außenthermometer, 17o C zeigt es an. Das Wetter ist trüb, über dem See liegt Dunst, das andere Ufer ist nicht zu sehen.
   Dann werfe ich den Bootsrucksack über die Schulter, greife zum Beutel mit der Verpflegung, verschließe die Wohnungstür und eile die Treppe hinunter. Zum Hafen ist es nicht weit, trotzdem gehe ich etwas schneller als sonst. Vielleicht gelingt es mir trocken an Bord zu kommen, denn allzu besonders sieht der Himmel nicht aus. Angezogen bin ich wie immer, so wie die Neukalener mich schon seit Jahren kennen, wenn ich zum Boot gehe. Alles ist altgedient, die Jacke, die Jeans und vor allem die in die Jahre gekommenen Turnschuhe. Auf dem Rücken einen schwarzen Rucksack, in der linken Hand einen ebenfalls schwarzen Beutel mit Kaffee und Brötchen. Lässt das Wetter Regen vermuten, so wie heute, trage ich in der anderen Hand noch einen Regenschirm, auch schwarz - nur keinen Stilbruch. Aber, was schleppe ich eigentlich die ganzen Jahre in diesem Rucksack zwischen Boot und Wohnung hin und her? Auch das will ich verraten. Es sind solche praktischen Dinge wie Fernglas, Echolot, Radio, Handy und manchmal auch ein CB-Funkgerät, je nachdem, was ich gerade vorhabe. Und was auf gar keinen Fall fehlen darf, sind die Bordpapiere, der Führerschein für den entsprechenden Fahrtbereich sowie ein Nicosignal zum Verschießen von Leuchtkugeln, sollte das einmal notwendig sein.
   Nach fünf Minuten habe ich den Hafen erreicht. Auf der Fußgängerbrücke bleibe ich einen Moment stehen. Von dieser etwas erhöhten Position aus hat man einen schönen Blick über die gesamte Anlage. Auf dem Wasser kräuseln sich kleine Wellen - der Hafen schläft noch.

 

Der Neukalener Hafen

 

Der Neukalener Hafen

 


    Nach weiteren fünf Minuten stehe ich vor einer Stahltür und suche den Schlüssel in der Hosentasche. Zu dieser Zeit ist noch niemand da, also verschließe ich die Tür wieder sorgfältig, durchquere einen kleinen Gang bis zur zweiten Tür, die in den Garten führt. Immer, wenn ich in den Garten hinaustrete, erinnert mich dieser Durchgang an das Märchen "Frau Holle". Ich komme mir vor wie die Goldmarie, als sie in den Brunnen sprang und sich anschließend in einer wunderschönen Landschaft wiederfand. Besonders dann, wenn am Morgen die Sonne mild in den Garten scheint, hat man den Eindruck, die böse Welt wäre hinter den beiden Türen zurückgeblieben.
   Heute scheint die Sonne nicht, trotzdem wirkt der Garten in seiner bunten Vielfalt verspielt und beruhigend. Gleich nach der Tür wachsen viele verschiedene Blumen. Dazwischen stehen kleine Tiere sowie Pilze aus Keramik. Auf dem größten Pilz sitzt eine Schnecke, ebenfalls aus Keramik. Links am Weg blühen Rosen, darüber die Äste eines Pflaumenbaumes, rechts stehen Apfelbäume. Auf dieser Seite gedeihen zudem Kartoffeln, Kürbisse und weiteres Gemüse. Auch die stets freundlich wirkenden Sonnenblumen fehlen nicht. Den letzten Apfelbaum schmückt ein hängender Blumenkasten mit schönen rotblühenden Verbenien. Danach ranken noch Himbeeren am Zaun. Den Abschluss bilden zwei winterharte Hibiskussträucher - links des Gartenweges blau, rechts violett. Und kommt man einmal im Dunkeln vom Boot, wird der gesamte Weg von kleinen Solarlampen erleuchtet, was will man mehr.
   Das letzte Stück vor dem Anleger ist Wiese. Hier gehe ich wieder schneller, aber nun nichts wie rauf aufs Boot, noch ist alles trocken. Mit Schuhen, Verpflegungsbeutel und Regenschirm in der linken Hand, balanciere ich über das Gangboard nach hinten. Als ich die Tür des Steuerhauses öffne, schlägt mir der typische Bootsgeruch entgegen. In dieser, mir so vertrauten kleinen Welt, stelle ich zunächst alles an seinen Platz. Die Schuhe werden, wie auch bei den Schlauchbootfahrten, in einer Plastetüte verstaut. Das Einbauen von Radio, Telefon und Echolot nimmt anschließend einige Zeit in Anspruch. Zuerst ist das Radio an der Reihe. Rechtzeitig zum Seewetterbericht, um 8.30 Uhr, schalte ich das Bordnetz zu. Auf den Frequenzen 972 und 702 kHz sendet der NDR alle notwendigen Informationen für die Gebiete der Nord- und Ostsee. Im Bereich der westlichen Ostsee gibt es heute Südwest- bis Westwind um 5, vereinzelt Schauerböen, zeitweise diesig. Das entspricht im Binnenland meistens einer 4. Zur Not kann man also heimwärts noch gegen anfahren.
   Genau 8.40 Uhr tuckert mein kleiner Plastedampfer langsam aus den Pfählen. Nach den letzten am Ufer liegenden Booten drücke ich den Gashebel ein wenig nach vorn, bei 2000 U/min läuft das Boot nun ungefähr die vorgeschriebenen 8 km/h. Je nach Strömung, Windstärke und -richtung fahre ich bis zum See 15 bis 20 Minuten - Zeit um einen Blick in die Landschaft zu werfen.

 

Peenekanal - der Weg zum See

 

Peenekanal - der Weg zum See

 


   Es ist jedes Jahr das Gleiche, ich trenne mich ungern vom Sommer, aber es ist Ende August, und das sieht man auch. Der Kanal liegt im Dunst. Überall zeigen sich in den Schilfrändern schon braune Stellen. Die Mummeln sind durchweg verblüht und auf dem Wasser treiben bereits dürre Blätter. Zwei Monate verbleiben noch, dann muss das Boot wieder ins Winterlager. Schnell verscheuche ich diese bedrückenden Gedanken.
   Kurz vor dem See umkurve ich eine kleine Schwimminsel. Den ganzen Sommer saß sie genau in der Mitte des Kanals auf dem Grund fest. Erst in den letzten Tagen ist sie ein wenig zur Seite gedriftet. Wider Erwarten sind die Wellen auf dem See noch recht gemütlich. Bei Südwestwind gibt es zwei mit Sicherheit ruhige Buchten für das Frühstück. Da es heute ohnehin eine Seeumrundung werden soll, entscheide ich mich für die Bucht mit der großen Weide - bei dieser Windrichtung meine Lieblingsbucht im Herbst. Sie liegt einen Kilometer vor dem Salemer Hafen und ist die südlichste Stelle der vier Kilometer langen Neukalener Sumpfbucht.

 

Die Bucht mit der großen Weide

 

Die Bucht mit der großen Weide

 

 

   Natürlich ist es bei uns überall schön, doch diese langgestreckte Bucht hat ihre besonderen Reize. Sie umfasst das Naturschutzgebiet und mehrere Torfstiche. Im Gegensatz zum Südostufer des Sees, das steinig ist und schnell auf 30 Meter über NN ansteigt, gibt es hier so gut wie alles an Getier, was nur irgendwie in Mecklenburg vorkommen kann. Zum Baden und Angeln eignet sich diese Bucht ebenfalls. Am interessantesten ist sie aber für den Naturfreund.
   Der Anker fällt 9.15 Uhr. Zum Essen setze ich mich runter an den Tisch. Schön ist es hier - wie immer im ausklingenden Sommer. Langsam schwoit das Boot hin und her, dabei schaukelt es sanft in der schwachen Dünung. Durch die Tür habe ich einen beeindruckenden Blick auf den See. Wegen der schlechten Sicht wirkt er besonders groß. Das Nordostufer ist nicht zu sehen. Einige Reusen in der Nähe und die dunstige Ferne erinnern ein wenig an die Ostsee.
   Ja, ich liebe den See, er ist mein kleines Meer vor der Haustür. Mit einer Fläche von 32,5 km2  ist er der viertgrößte See Mecklenburg / Vorpommerns. Bei entsprechendem Wetter darf man ihn schon mal mit der Boddenlandschaft vergleichen. Filmaufnahmen aus dem Jahre 1982 belegen das anschaulich. Damals wehte ein Wind der Stärke 6 bis 7 aus Südwest und baute vor dem Verchener Strand eine Brandung auf, wie ich sie bis dahin nur an der Ostsee erlebt hatte. Selbstverständlich bietet die Ostsee weit mehr, aber auch bis zu 2 m hohe Wellen auf unserem See sind nicht zu verachten. Bei niedrigen Wassertemperaturen kann eine Kenterung in der Mitte, wenn es keiner sieht, selbst mit Rettungsweste letal ausgehen.
   Nach dem Essen setze ich mich auf den quer gedrehten Steuermannsstuhl. Auf diese Weise habe ich das Ufer im Rücken und nach allen Seiten einen wunderschönen Ausblick. Seit den Morgenstunden hat der Wind kontinuierlich zugenommen. In manchen Böen heult er bereits im Signalmast und in den Antennen. Überall haben sich Schaumkronen gebildet. Ein 10-m-Boot stampft gischtend dagegen an. Der Wetterbericht scheint recht zu behalten - mal sehen wie es weitergeht.
   In Verlängerung der Landzunge, hinter der mein Boot liegt, erblicke ich einen schwarzen Teppich auf dem Wasser. Kormorane - es müssen an die 200 Stück sein. Darüber kreist ein Seeadler in geringer Höhe und löst unter den Vögeln panikartige Reaktionen aus. Er lässt dann aber von den Kormoranen ab, fliegt am Boot vorbei und landet auf der großen Weide. Die Brecher auf dem See beginnen gleichmäßig zu rauschen, ebenso die Weide in der Nähe. Dadurch wird es im Boot nur noch gemütlicher. Trotz des Windes strahlt die Landschaft eine tiefe Ruhe aus. Es scheint, als wäre die Natur erhaben über alle kleinlichen Dinge des Lebens.
   Auf dem Tisch stehen Thermoskanne, Tasse und Brotbüchse anheimelnd beisammen - auf dem Logbuch liegt die Sonnenbrille. Der Rauch meiner Pfeife steigt in Kringeln zur Decke, vermischt sich zu diffusem Dunst und entschwebt sacht durch die offene Tür. So ein Boot ist wie ein kleines Häuschen. Man kann es an jeder beliebigen Stelle in der Natur platzieren - Voraussetzung ist nur eine Handbreite Wasser unter dem Kiel.
   Aus der großen Weide schweben plötzlich zwei Seeadler aufs Wasser hinaus. Über dem einige 100 m verdrifteten schwarzen Teppich der Kormorane kreisen sie ein um ihnen einen Teil der Beute abzujagen. Die Kormorane flüchten scharenweise. In Kürze dümpeln nur noch Einzelne auf den Wellen - die Adler fliegen weiter.
   Der Seewetterbericht um 11.05 Uhr erbringt, außer einer Starkwindwarnung für die westliche Ostsee nichts Neues - es bleibt bei Südwest bis West um 5. Vorübergehend lässt sich die Sonne blicken, im Boot wird es schön warm. Bevor ich weiterfahre verführt mich diese spätsommerliche Stimmung zu einem kurzen Bad, immerhin liegt die Wassertemperatur noch bei 19o C.
   11.35 Uhr ist der Anker wieder an Bord. Langsam fahre ich durch die Pflanzenzone auf den See hinaus. Ab 3 Meter Wassertiefe ist der Grund pflanzenfrei, ich gehe auf Parallelkurs zum Ufer. Das Boot läuft nun mit 2200 U/min gegen den Wind. Außer einigen Spritzern auf der Scheibe ist von den Wellen kaum etwas zu spüren.

 

Der Salemer Hafen

 

Der Salemer Hafen

 


   Nach nur einem Kilometer bin ich auf Höhe des Salemer Hafens. Er ist der modernste am Kummerower See, hat aber bei starkem Ostwind auch seine Schattenseiten. Über eine zweite Mole sowie eine betonnte Zufahrt würden sich die Nutzer bestimmt freuen. Romantisch wirkt dagegen der Eingang zu den Salemer Fischern - gleich 300 Meter weiter. Hier ist alles schilfbewachsen. Seit Jahr und Tag genügt ihnen diese schmale Zufahrt für ihre robusten Stahlboote. Anschließend gibt es bis Kummerow nur noch Natur. Der zirka vier Kilometer lange Schilfgürtel, der vom Kanal nach Malchin unterbrochen wird, hat viele kleine Buchten, die zum Verweilen einladen. Dabei gilt die Devise, je kleiner das Boot, desto näher kommt man heran. Vor Jahren habe ich den gesamten Abschnitt von Salem aus mit dem Schlauchboot erkundet und so manche lauschige Ecke gefunden. Heute allerdings, fahre ich annähernd auf der 3-m-Linie, um den Pflanzen aus dem Weg zu gehen.
   11.55 Uhr erreiche ich das Südwestufer. Im sicheren Abstand von den der Kanaleinfahrt vorgelagerten Betonplatten, kreuze ich das Fahrwasser nach Malchin. Für einen reichlichen Kilometer geht es nun auf Südostkurz weiter. Die Sonne hat sich wieder verabschiedet, wie es aussieht, für den Rest des Tages. Sogar in meinem "Glashaus" ist es unangenehm kalt geworden - die Füße sind besonders betroffen. Nahe dem Ufer liegt ein Kielkreuzer vor Anker. An Deck ist niemand zu sehen - kein Wunder bei dieser Kälte. An der südlichsten Stelle des Sees schalte ich den Motor ab. Auf dem Dach faucht der Wind. Das Boot treibt hier ohne Wellen. Noch kann ich mühelos Notizen machen. Spätestens ab Sommersdorf wird es mit dem Schreiben vorbei sein.
   Bevor es weitergeht, stelle ich mich noch einen Moment aufs Achterdeck und lasse mir den Wind um die Nase wehen. Viele Erinnerungen hängen gerade am südlichsten Zipfel des Kummerower Sees. Vor 26 Jahren war ich das erste Mal an dieser Stelle - mit dem Schlauchboot vom Kummerower Zeltplatz aus. Unser kleiner Segler lag wegen des Windes fest vertäut am Ufer und das Zelt flatterte kläglich in den Böen. Dazu gibt es einen Film, der es jederzeit gestattet, noch einmal in die Vergangenheit abzutauchen. Wie doch die Zeit vergeht! Mit etwas Wehmut im Herzen steige ich die Stufe ins Steuerhaus hinunter und lasse den Motor wieder an - es ist 12.05 Uhr. Für die kommenden 10 Kilometer habe ich jetzt den Wind von hinten. Er bläst auch gleich so kräftig ins Boot, dass ich die Tür schließen muss. Vor dem ehemaligen Zeltplatz schwimmt eine große Schar Gänse auf dem Wasser. Als ich näher komme, flüchten sie mit viel Geschrei, Geflatter und Gespritze - welch ein uriger Anblick. Das Kummerower Schloss, mit dem vorgelagerten Badestrand, verschwindet langsam hinter den Bäumen. Der Hafen kommt in Sicht.

 

Der Kummerower Hafen

 

Der Kummerower Hafen

 

 

   Für den Hafen in Kummerow trifft im Prinzip das Gleiche zu wie für den Salemer Hafen. Auch er ist vor einigen Jahren erneuert worden. Auch hier fehlt die zweite Mole und eine betonnte Zufahrt gibt es ebenfalls nicht. Auf die Tonnen kann man zur Not verzichten. Aber die zweite Mole würde vor allem bei Nordwind für die Dauerlieger einen Qualitätssprung erbringen.
   Und weiter geht die Reise rund um den Kummerower See. Es ist immer noch dunstig, das Nordostufer kann ich kaum erkennen, die Wellen sind schon ein wenig ruckelig geworden. Von hier bis Sommersdorf folgt wieder ein landschaftlich ansprechendes Schilfufer mit vielen kleinen Buchten, die ich bei Südostwind den Naturfreunden nur empfehlen kann. Auch an diesem Abschnitt hängen viele Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen. Ungefähr auf der Mitte zwischen Kummerow und Sommersdorf, genau dort, wo der durchgehende Wald endet, liegt schon seit Jahrzehnten ein Pferdewagenrad nur wenige Meter vor der Schilfkante im Wasser. 1986 habe ich mir beim Baden daran die Hand verletzt. Obwohl wir schon oft in dieser Bucht dicht neben dem Rad geankert hatten, bin ich wie durch ein Wunder nicht aufgefahren.

 

Bootsliegeplatz in Sommersdorf

 

Bootsliegeplatz in Sommersdorf

 

Badestrand in Sommersdorf

 

Badestrand in Sommersdorf

 


   Vor dem Sommersdorfer Badestrand haben die Wellen bereits eine Höhe von 50 Zentimetern. Es wird flach und ich muss weit auf den See hinausfahren. Dabei erfasst mich der Wind vorübergehend von der linken Seite - das Boot kommt schon ganz ordentlich ins Rollen. Die gesamte Sommersdorfer Ecke umfahre ich wegen der geringen Wassertiefe im großen Abstand. Bei Süd- bis Südostwind liegen hier die Lieblingsbadestellen der Neukalener. Im Gegensatz zur Sumpfniederung vor Neukalen gibt es am Südostufer selbst im Hochsommer so gut wie keine Bremsen. Deshalb nimmt jeder die spritschluckende Fahrt über den See gern in Kauf. In der äußersten Ecke der Sommersdorfer Bucht lasse ich das Boot erneut treiben - die Borduhr zeigt 12.51 Uhr. Bis auf einlaufende Dünung ist es hier ruhig. Wahrscheinlich ist das die letzte Möglichkeit zum Schreiben.
   Höhe Meesiger hat mich der See wieder fest im Griff. Da der Wind aus West- bis Südwest kommt, habe ich die Wellen einen Moment schräg von hinten und das Boot beginnt stark zu schlingern. Überall sind Schaumkronen zu sehen. Neukalen und Salem liegen im Dunst. Der Anblick wirkt schon ein wenig maritim - ganz nach meinem Geschmack.
   Ein undefinierbares Rucken reißt mich aus diesen romantischen Betrachtungen. Was kann das sein? Auf dem Echolot liegen 5 Meter an und die Wellen habe ich wieder gleichmäßig von hinten. Das Rucken wird allmählich stärker. Auf dem Wasser sieht es aus, als hätte sich Kreuzsee gebildet. Aber hier auf dem kleinen See und dem flachen Land, das kann nicht sein - leichtes Unbehagen macht sich breit. Die Erleuchtung lässt nicht lange auf sich warten. Das eigenartige Phänomen entsteht an der Spundwand von Gravelotte. Sie reflektiert die Wellen bis zu einer Entfernung von 500 Metern. So etwas muss ich mir natürlich aus der Nähe ansehen. 20 Meter vor der Spundwand kocht das Wasser. Rings um das Boot hüpfen Wasserspitzen mit einem Meter Höhe. Ruckartig werde ich hin und her geworfen. Meine kleine Plasteschüssel hält sich wacker. Sie tanzt wie ein Sektkorken auf dem Wasser. Interessiert verfolgen einige Urlauber das Schauspiel. Der Wind steht im rechten Winkel auf der Spundwand. Was würde wohl passieren, wenn jetzt die Maschine ihren Geist aufgibt?

 

Hafenansicht in Gravelotte

 

Hafenansicht in Gravelotte

 


   Ein Stück fahre ich parallel zu dieser bedrohlichen Eisenwand. Schon wenige Meter daneben ist der Tanz mit einem Mal vorbei. Die Wellen heben und senken mich wieder gleichmäßig. Einen kurzen Blick werfe ich noch auf die schwankenden Betonwellenbrecher, die vor der Hafeneinfahrt verankert sind. Bei auflandigem Wind erscheint mir die Zufahrt ziemlich gefährlich. Überhaupt hat Gravelotte eine nicht gerade günstige Lage. Hier donnern bei Sturm am häufigsten große Wellen auf den Hafen, was bei entsprechender Eisstärke in den vergangenen Jahren immer wieder zu Schäden führte.
   Mit gut 4 Metern unter dem Kiel schippere ich weiter. Die Wellen haben in der Zwischenzeit annähernd Meterhöhe erreicht - langsam wandert das Ufer vorüber. Auch an diesem Abschnitt hängen viele Erinnerungen. Vor der Steilküste, 500 Meter nach Gravelotte, liegt eine Bucht mit gefährlichen Steinen. Wir sind 1982 mit unserer kleinen Jolle in dieser Bucht gestrandet. Erst am nächsten Tag war der Wind so weit abgeflaut, dass es möglich wurde die Bucht bei auflandigem Wind wieder zu verlassen. Hier sind auch die anfänglich erwähnten ostseeartigen Filmaufnahmen entstanden.
   Je weiter ich mich dem Verchener Strand nähere, desto auflandiger wird der Wind. Vorsichtshalber bleibe ich im 4-m-Bereich. Zu meiner großen Verwunderung reicht dieser bis auf 500 Meter an den ansonsten sehr flachen Strand - so hatte ich das gar nicht mehr in Erinnerung. Anderthalb Kilometer fahre ich nun parallel zum Nordostufer des Sees. Die Wellen sind nicht höher als einen Meter geworden - treffen mich aber jetzt von der Seite. Sie sind bei einer geschätzten Windstärke 4 nicht kantig, sondern, zumindest hier im tiefen Wasser, ostseemäßig lang. Bei stetigem Seitenwind läuft das Boot von selbst geradeaus, ich verlasse das Ruder und stelle mich in die Tür. Mit beiden Händen am Türrahmen festgeklammert schaue ich entgegen der Fahrtrichtung aus dem Steuerhaus. Das Bild ist beeindruckend, was sich mir bietet. Nach rechts gesehen ist der See mit Schaumkronen überzogen, links rollt die Brandung auf den Strand. Das Boot knackt und knistert in allen Fugen, zuweilen kränkt es bis nahe 45o. Nur 50 Meter neben mir, das Echolot zeigt weiterhin 4 Meter an, erkenne ich eine parallel zum Strand verlaufende Linie, an der sich das Wasser schlagartig von dunkel auf hell verfärbt. Bei dieser Entdeckung befällt mich heute zum zweiten Mal ein flaues Gefühl. Wenn jetzt der Propeller stehenbleibt, ist das zwar nicht lebensgefährlich, aber es erbrächte Probleme ohne Ende.
   Kurz vor den Fahrwassertonnen nach Aalbude wird es dann aber schnell flach unter dem Kiel, ich eile zum Steuerrad und stelle das Boot gegen den Wind. Die Fahrt gegenan verläuft besser als gedacht. Hin und wieder wuchtet das Boot bis zur Ankerrolle in einen Wellenberg, doch das verkraftet der vollständig gelenzte Küstenkreuzer spielend. Das Spritzwasser prasselt gegen die Scheiben. Im Steuerhaus ist es warm und trocken, ich bin zufrieden mit dem Boot, mit mir und der übrigen Welt.
   Das erste Tonnenpaar der Zufahrt nach Aalbude bleibt steuerbord zurück. Im Schilfgürtel, 300 m links neben der Hafeneinfahrt, befindet sich eine romantische Bucht, die besonders bei Nordwest bis Nord sehr zu empfehlen ist. Auch mit dieser Stelle sind viele schöne Erinnerungen verbunden. Von Aalbude bis zum Neukalener Kanal erstreckt sich ein Schilfgürtel von circa 5 Kilometern. Mit dem Naturschutzgebiet und dem teilweise bis zu zwei Kilometer breitem, sumpfigem Hinterland handelt es sich hierbei um das wohl unberührteste Ufer am ganzen Kummerower See.
   Das Boot stampft gegen die Wellen an. Die Untiefentonne Ost liegt bereits hinter mir. Die Untiefentonne Süd umfahre ich mit gebührendem Abstand und halte anschließend auf die, dem Naturschutzgebiet vorgelagerte Landzunge, zu. Genau um 14.20 Uhr fällt der Anker im Schutze eben dieser Landzunge. Endlich kann ich meinen Notizblock wieder benutzen - die Seeumrundung ist so gut wie beendet.
   Nach dem Kaffee sitze ich noch ein Stündchen auf dem Steuermannsstuhl und genieße die raue Schönheit der Natur. Die Dünung ist hier stärker als heute Morgen an der großen Weide, aber das stört mich nicht - im Gegenteil, so muss das sein, sonst wäre es ja nicht mein kleines Meer vor der Haustür.